24.05.2020, sh
Zu Beginn: Verwirrung - wieso beginnt das Buch mit Kapitel 2? Hat jemand das 1. Kapitel vergessen oder herausgerissen?
Als Nächstes: Sympathie - der Protagonist mag Hunde, weil die ehrlicher sind als manche Menschen, er mag nicht angeschrien oder angefasst werden, produziert manchmal Töne, um andere Geräusche zu übertönen und findet Gefallen an Mathematik, Logik und Naturwissenschaften. Mal ehrlich, das klingt doch weder sonderbar (wie der deutsche Titel „Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone“ suggeriert) noch besonders nerdig, oder? Aber der Protagonist ist ein 15 Jähriger mit Asperger Syndrom, der gleichzeitig seine Geschichte erzählt und das Schreiben eines murder mystery einwebt - daher auch der Beginn mit Kapitel 2, denn er liebt Primzahlen und nutzt diese als Kapitelnummern!
Während die Leserin an vielen Stellen vor Augen „gedruckt“ bekommt, wie jemand mit Asperger Syndrom seine Umgebung wahrnimmt und wie seltsam diese manchmal auf ihn reagiert, so wird doch auch sehr deutlich, dass es sich bei diesem Syndrom lediglich um eine extremere Ausprägung bestimmter Vorlieben und Verhaltensweisen handelt, die viele von uns und viele unserer nerdigen Freunde ebenfalls zeigen. So z.B. die Faszination für Primzahlen oder Logik-Rätsel, den Wunsch, alle Länder und deren Hauptstädte auswendig zu lernen sowie die Möglichkeit, leise oder laut eine Melodie zu summen, um schlechte Gedanken loszuwerden, oder die Augen zu schließen, um sich in eine schönere Situation zu denken. Die Hauptfigur ist stundenlang nicht ansprechbar, wenn er in Primzahlen oder Potenzen zählt, um sich zu beruhigen, stöhnt laut, um unangenehme Situationen zu beenden oder rastet aus, wenn ihn jemand berührt. Gleichzeitig kann er Gesichter und Gefühle anderer nicht gut lesen, nicht lügen oder nur schwer von etwas berichten, was er sich vorstellen soll, weil er sich dann unweigerlich alle anderen hypothetischen Situationen gleichzeitig vorstellen muss, was zu einer absoluten kognitiven Überlastung und damit für die Außenwelt seltsamen Verhaltensweisen führt. Ähnlich wie Sherlock Holmes nimmt er in jeder Situation jedes (für alle anderen irrelevante) Detail war, weshalb er am liebsten in seiner gewohnten Umgebung bleibt und seinen Tag minutiös in gewohnte Rituale einteilt.
Diese ganzen Verhaltensweisen werden charmant - an vielen Stellen aber auch erbarmungslos deutlich im Hinblick auf ihre ver- bzw. zerstörende Kraft für ihn und seine Umwelt - in eine Geschichte gewoben, in der der Charakter eigentlich einen Mord an einem Nachbarshund aufklären will. Während dieses „Detektiv-ierens“ wächst er über sich hinaus, redet mit Fremden und unternimmt sogar allein eine Reise, metaphorisch in seine Vergangenheit und physisch nach London - zuvor mit seinem Hintergrund völlig undenkbar.
Lohnt sich dieses Buch für Nerds?
Ja, denn das Credo „Leben Lieben Lernen“ wird wie folgt adressiert:
Leben: das Buch unterhält durch die Story in der Story, durch o.g. Beschreibung der Verhaltensweisen - bei denen sich der nerdige Leser immer wieder selbst die Frage stellt: Zeige ich diese in Ansätzen nicht auch? Ist eine deutlichere Ausprägung wirklich so „sonderbar“ (s. Titel), dass die Umwelt derart abwehrend reagieren muss?
Lieben: auch wenn der Leser an vielen Stellen mit der Hauptfigur (und deren Eltern) mit leidet, so bringt das Buch durch Empathie die Erkenntnis hervor, dass Symptome des Asperger Syndroms doch nur nerdigere Versionen normaler Verhaltensweisen sind sowie den sich daraus ergebenen Wunsch, sich selbst und der Gesellschaft zu sagen: es ist gut, wenn es Menschen gibt, die bestimmte Dinge anders (klarer?) sehen als der „Normalo“, auch wenn uns das adressatenbezogen andere Reaktionen abverlangt —> Stichwort: intellectual and personal humility.
Lernen: dem Leser bietet das Buch darüber hinaus auch Erklärungen zu logischen Rätseln wie dem Monty Hall Problem, zum Unterschied zwischen den Begriffen Vergleich und Methapher oder zur Milchstraße und dem Sternbild Orion, um nur ein paar zu nennen.