Wer manchmal den verstörenden Eindruck hat, die eigene Lebenszeit rinne unaufhaltsam und belanglos durch die Finger, kann dagegen erstaunlich einfach etwas tun.
10.08.2023
Diese Überschrift ist natürlich eine Karikatur reißerischer Überschriften in Boulevardzeitungen und ihren modernen Pendants wie "Social Media"-Apps und Web-Videoplattformen. In Wirklichkeit wird es hier um eine alte Weisheit gehen, die nur mal wieder erwähnt werden muss.
Zeit ist das vielleicht widersprüchlichste Phänomen unserer Welt. Sie ist nicht direkt messbar. Es gibt keine Zeit-Atome oder sonstige physikalische Partikel, aus denen sie sich zusammensetzt. Zeit ist eigentlich nur eine menschliche Konvention, um sich als Muster wiederholende Veränderungen im Raum zu beschreiben.
Und auch wenn sie nicht direkt real ist, spielt sie doch eine große Rolle in unserem Leben. Wir sprechen von ihr wie von einer wichtigen Ressource: Ein Frühstücksei braucht vier Minuten im kochenden Wasser. Ein Tag besteht aus 24 Stunden. Ein Projekt kostet uns drei Monate. Und der durchschnittliche Deutsche hat achtzig Jahre zu leben. Obwohl Zeit unsichtbar und nicht einmal direkt real ist, zählen wir sie mit höchster Präzision.
Und wir sind nahezu immer unzufrieden mit der Zeit, weil sie uns zu lange oder zu kurz vorkommt. Ein langweiliger, mühseliger Arbeitstag ist deprimierend und ein kurzweiliger Arbeitstag ist oft stressig, weil wir mehr Zeit für all unsere Aufgaben bräuchten.
Nicht nur unzufrieden sondern geradezu verzweifelt macht es uns, wenn sich der Eindruck einstellt, die eigene Lebenszeit verfließe schnell und bedeutungslos: Wieder ein Arbeitstag vergangen, schon wieder Weihnachten, noch ein graues Haar und die Kinder werden so schnell groß - und was habe ich mit meiner(!) Zeit gemacht?!
Wenn dieser Eindruck uns überkommt, wird es Zeit, innezuhalten und genauer darüber nachzudenken, was wir bisher im Laufe unseres Lebens aus unserer Zeit gemacht haben. Wir sollten ehrlich Bilanz ziehen. Die meisten Menschen werden einiges Gutes finden, was sie aus ihrer Zeit gemacht haben: Leistungen im Beruf erbracht und Kinder erzogen zum Beispiel. Je nach Art des Berufs und Vorhandensein, Alter oder Erziehungserfolg der Kinder kann es sein, dass dies nicht reicht, um sich des Eindrucks ungenutzter Lebenszeit zu erwehren.
Eventuell sind konkretere Dinge nötig: Vergangene Zeit wird sichtbar durch die eigenen Werke. Wer Dinge produziert, die von gewisser Dauer sind - egal ob Texte, Bilder und Computercode oder anfassbare Dinge wie Kleidungsstücke und Häuser - kann vergangene Zeit rückblickend an den Ergebnissen der eigenen Arbeit messen. Vor allem wenn wieder einmal das dräuende Gefühl einsetzt, die eigene Lebenszeit verfließe erschreckend schnell und im schlimmsten Fall bedeutungslos - dann ist der Blick auf die eigenen Werke tröstend und ermutigend. Natürlich ist der Rückblick nur tröstend und ermutigend, wenn das Ergebnis den eigenen Erwartungen entspricht. Das Gegenteil war beim berühmten Hauptmann von Köpenick der Fall, der fürchtete, eines Tages vor seinen Schöpfer treten zu müssen und als Lebenswerk nichts als eine im Gefängnis geflochtene Fußmatte vorzuweisen zu haben.
Eine solche Erkenntnis ist ein dringendes Warnsignal dafür, dass man sein Leben ändern sollte. Wer angesichts der eigenen beruflichen Leistung nicht das Gefühl hat, seine Lebenszeit sinnvoll zu verwenden, sollte den Beruf wechseln. Falls die beruflichen Leistungen zwar sinnvoll aber abstrakter Natur sind - wie z.B. Lehre oder soziale Dienstleistungen - kann ein sinnvolles kreatives Hobby uns wieder zur Herrin der eigenen Zeit machen: Wer z.B. einen sozialkritischen Blog schreibt oder für wohltätige Zwecke strickt, kann bald die vergangene Lebenszeit in Texten oder Schals messen.
Also, all ihr geistig unterforderten Krankenpflegerinnen und Polizisten, ihr am Sinn des Schulsystems zweifelnden Lehrerinnen und ihr von Burnout bedrohten Sozialpädagogen - nutzt eure Chance, legt euch ein produktives Hobby zu und werdet zu den ersten, die mit dieser revolutionären neuen Methode Zeit sichtbar machen!