Aus der (imaginären) Vogelperspektive betrachtet, werden schon kleine Nettigkeiten im Alltag zu einem globalen Netzwerk, das das Leben für uns alle ein bisschen schöner macht.
18.11.2023
Wenn wir jeden Tag bei der Erledigung unserer täglichen Aufgaben und der Verfolgung unserer täglichen Ziele durch unsere Menschenwelt gehen, gehen wir wortwörtlich durch sie hindurch. Wir gehen hindurch zwischen Bergen und Tälern, Bäumen, Häusern, Autos, Fahrrädern, Menschen und all den anderen Objekten und Subjekten, die auf der Oberfläche des Planeten Erde so anzutreffen sind. Dabei beschleicht uns manchmal das Gefühl, wir seien machtlos, hilflos, insignifikant. Und tatsächlich gibt es acht Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Das macht aus uns ein Achtmilliardstel der Menschheit. Irgendwie ist es verständlich, dass wir uns angesichts dieses Zahlenverhältnisses insignifkant vorkommen. Zumindest scheint es vielen Menschen so zu gehen. Wie wären sonst geläufige Aussagen wie "Ich kann doch nichts ausrichten." oder "Man kann nichts ändern." zu erklären?
Freundlich, hilfsbereit und engagiert zu sein erscheint aus der alltäglichen Perspektive unseres Lebens wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Oder es scheint sogar noch weniger zu sein. Ein fremder Mensch, dem gegenüber wir einmal freundlich oder hilfsbereit waren, verschwindet um die nächste Straßenecke und wir wissen nichts darüber, was aus ihm wird. "Warum also abmühen, wenn doch alles vergebens sein könnte?" So dürfte die zynische Frage lauten, die sich Viele stellen.
Gegen diese lähmenden Gedanken gibt es zwei aufmunternde Gegen-Gedanken: Erstens sollten wir daran denken, wie Menschen gestrickt sind, und zweitens sollten wir uns imaginär in die Vogelperspektive versetzen.
Erstens sind Menschen soziale Wesen. Das bedeutet, dass sie gerne gute Beziehungen zu anderen Menschen haben; dass sie gerne von freundlich gesinnten Menschen umgeben sind. Außerdem bedeutet es, dass Menschen nicht zuletzt durch Imitation lernen. Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber unbekannten Passanten hat daher mit erheblicher Wahrscheinlichkeit eine große Wirkung. Im Supermarkt, in der Fußgängerzone oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln ist es üblich, dass man einander weitgehend ignoriert. Meistens geht man grußlos aneinander vorbei. "Ich tue dir nichts, du tust mir nichts." scheint die Botschaft dieses distanzierten Verhaltens zu sein. Wenn man aber doch einmal ein paar freundliche Worte an andere Menschen richtet, reagieren diese meist erfreut. Und wenn man gar aktiv hilfsbereit ist, indem man beispielsweise schwer bepackten Bahnreisenden mit ihrem Gepäck hilft oder sich suchend umblickenden Leuten einen Hinweis gibt, dann ist die Reaktion meist überrascht und dankbar. Besonder groß und wirksam ist diese positive Überraschung, wenn sie von einem besonders fremd wirkenden Menschen ausgelöst wird. Wenn also ein deutschstämmiger Mann einem muslimischen Mädchen mit Kopftuch oder einem Afrikaner gegenüber freundlich und hilfsbereit ist, wird dies umso stärkeren Eindruck hinterlassen; denn Angehörige von Minderheiten sind gewohnheitsmäßig immer ein bisschen ein Alarmbereitschaft, da sie mit Diskriminierung durch Angehörige der Mehrheit zu rechnen haben.
Diejenigen, zu denen wir nett sind, werden Anderen wahrscheinlich davon erzählen. Natürlich nicht Alle, aber einige werden am betrieblichen Kaffeeautomaten und am familiären Abendbrottisch berichten: "Da saß mir eine total nette Dame im Zug gegenüber." oder "Da war jemand in der Stadt total hilfsbereit." Einige Empfängerinnen unserer Nettigikeit werden sich auch inspirieren lassen und es uns gleichtun; denn Menschen lernen unter anderem durch Imitation - und durch Ermutigung. Nicht Wenige haben gewiss den Wunsch, öfter mit Fremden ins Gespräch zu kommen, trauten sich bisher aber nicht. Unser Beispiel wird Einige ermutigen.
Dies waren die Ausführungen zum ersten Gedanken. Mit dem zweiten Gedanken, dass wir uns in die Vogelperspektive versetzen sollten, ist folgendes gemeint: Stellen wir uns eine Landkarte vor; eine Karte unserer Stadt, unserer Region, eine Karte von Deutschland oder auch von der ganzen Welt. Jede unserer Nettigkeiten sei nun ein kleines Licht, das auf dieser Karte dort erleuchtet, wo wir freundlich oder hilfsbereit waren. So eine Karte könnte man sogar tatsächlich auf Papier oder am Computer anfertigen und wie ein Journal führen. Trophäen der Nettigkeit könnten wir darauf sammeln. Und es kommt noch besser: Wir können uns wie oben beschrieben vorstellen, dass viele von Denen, zu denen wir freundlich oder hilfsbereit waren, es durch uns ausgelöst auch zu Anderen sind. Wir dürfen also annehmen, dass auf der Karte um die Lichter unserer Nettigkeit herum weitere Lichter aufleuchten - Lichter, die es ohne uns nicht gegeben hätte.
Und so können wir uns berechtigerweise vorstellen, wie durch das eigene nette Verhalten die Karte langsam immer weiter aufleuchtet. Das Licht zeichnet grob ein Muster um unsere Wege herum, unsere Wege von der Wohnung zum Bäcker, zur Kita, zur Schule oder zur Arbeit; unsere Wege ins Stadtzentrum, in andere Städte und gelegentlich auch andere Länder. Dort, wo wir oft unterwegs sind, wird es bald merklich heller werden. Dort, wo wir selten sind, wird es langsamer gehen. Aber wenn wir oft nett sind, folgt uns eine Spur der Nettigkeit und verästelt sich um unsere Wege herum, wenn andere gemäß unserem Beispiel auch nett sind. Und dieses Netzwerk der Netten ist auf uns zurückzuführen.