Wenn Politikerinnen und Wirtschaftswissenschaftler immer wieder 'Arbeit neu denken', dann können wir Nerds das ruhig auch mal machen.
29.11.2024
Erinnert sich noch jemand - aus eigener Anschauung oder aus Geschichtsbüchern - an die Neue Deutsche Welle? Oder die NWoBHM, die New Wave of Britisch Heavy Metal? Oder schlicht die, DIE Renaissance (in diesem Fall nur aus Geschichtsbüchern)? In der Kunst sind neue Wellen von so oder so ähnlich schon einmal dagewesenen Trends fast ein Naturgesetz. Aber auch in anderen Aspekten der menschlichen Zivilisation - Bekleidungsmode, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft - sind Wiederholungen üblich. Manchmal passieren sie anscheinend unbeabsichtigt, und manchmal werden sie gezielt herbeigeführt. Wir Menschen folgen damit vermutlich einem tatsächlichen Naturgesetz, das sich in Rhythmen wie unserem Herzschlag, unserem Schlaf-Wach-Wechsel und den Jahreszeiten äußert.
Treu diesem Muster wurden in Deutschland - und natürlich auch andernorts - mehrfach neue Zeitalter der Arbeitswelt ausgerufen. Die Berufswelt-"Social Media"-Plattform Xing wurde zu einer Marke des "New Work"-Konzerns. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen startete 2018 mit vielen Partnern die "Initiative Wirtschaft und Arbeit 4.0" (siehe https://www.iwa.nrw.de/).
Die größte Initiative zur Veränderung der Arbeitswelt in der jüngeren Vergangenheit wurde aber nicht von Menschen losgetreten, sondern vom Corona-Virus. War Homeoffice Anfang 2020 noch ein seltenes, wenig beachtetes Phänomen, wurde es im Frühjahr 2020 zur Zwangsnormalität, aber natürlich nur für Büroarbeiter und solche, deren Arbeit sich irgendwie von zu Hause bewerkstelligen ließ. Bauarbeiter, Pflegekräfte und Verkäufer beispielsweise waren - zur Freude der einen und zum Leid der anderen - beim neuen Trend außen vor. Ein Bauarbeiter veröffentlichte als zeitgenössischen Scherz ein Bild von sich am heimischen Küchentisch mit einer Mörtelkelle in der Hand, einem Zementmischer neben sich und der Bildunterschrift "Me preparing to work from home".
Als wir das Corona-Virus einigermaßen zurückgedrängt hatten, wollten durchaus nicht alle Heimarbeiter wieder zurück in den Betrieb. Viele Buchhalter, Wissenschaftlerinnen, Softwareentwicklerinnen und andere Kopfarbeiter hatten sich an das Homeffice gewöhnt und reklamierten, sie könnten zu Hause genau so gut oder sogar besser arbeiten. Manager und Firmenbesitzer reagierten darauf sehr unterschiedlich, und die Homeoffice-Debatte hat bis heute nicht an Fahrt verloren. Jüngst zeigte sich das bei Amazon, dessen Leiter von Amazon Webservices seine Mitarbeiterinnen aufforderte, entweder in Vollzeit ins Büro zurückzukehren oder zu kündigen (siehe https://www.golem.de/news/home-office-bei-amazon-chef-empfiehlt-mitarbeitern-kuendigung-2410-189966.html). In der Homeoffice-Debatte sind gewiss nicht Alle ehrlich. Manche Manager versuchen, hinter Pseudo-Argumenten ihr Bedürfnis nach Kontrolle und Mikromanagement zu verstecken. Und Management ist zweifellos einfacher, wenn man auf dem Weg zur Kaffeemaschine schnell den Kopf in drei Büros stecken und Aufträge verteilen kann. Manche Angestellten wiederum versuchen mit der Behauptung größerer Effizienz im ruhigen Homeoffice ihr Bedürfnis nach Gemütlichkeit zu überspielen. Und es ist zugegebenermaßen sehr bequem, sich einfach in Unterwäsche mit dem Laptop auf die Couch zu setzen und all die Zeit für gründliche Morgentoilette, Ankleiden und Arbeitsweg zu sparen.
Vor allem aber haben die Berufe, in denen Arbeiten von zu Hause grundsätzlich möglich ist, an sich einen weiteren immensen Vorteil: Man ist mit der Organisation des eigenen Lebens viel flexibler, als wenn man Handwerkertermine, Arztbesuche, Schulferienbetreuung der Kinder und vieles mehr um seine Schichten im Betrieb herum planen muss. Dies ist vielleicht sogar eine der größeren Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaft: Die Einen haben dank Laptop, Homeoffice-Erlaubnis und flexiblen Arbeitszeiten große Kontrolle über ihre eigene Zeit. Die Anderen müssen sich weit im Voraus in Schichtpläne eintragen und jede Abweichung davon mehr oder weniger mühsam verhandeln. Und wie so oft sind nicht zuletzt diejenigen mit geringem sozialen Status betroffen: Krankenschwestern, Fahrer, Fabrikarbeiter, Friseusen und Verkäuferinnen zum Beispiel. Sie alle haben in unserer heutigen Gesellschaft berufsbedingt vergleichsweise wenig Kontrolle über das eigene Leben. Und anders als zum Beispiel Lehrer und Ärztinnen, die auch im Zweifel vor Ort sein müssen, sind sie auch mit den Ressourcen Geld und Bildung meist eher bescheiden ausgestattet, was das Leben nicht gearde einfacher macht. Dass diese Berufe nicht besonders gefragt sind, sondern all zu oft von Denen genommen werden, die keine andere Wahl haben, ist ein Allgemeinplatz. Wer den nötigen bildungsmäßigen Hintergrund hat, geht nicht in einen Beruf mit Spätschichten, körperlicher Arbeit, geringem Ansehen und bescheidener Entlohnung. Zu viele Kinder des Bildungsbürgertums wollen seit Jahrzehnten "irgendwas mit Medien" machen. Und wer den Lehrerberuf anstrebt, tut das verstörend oft primär wegen der Aussicht auf Verbeamtung sowie Nachmittage und Abende, an denen man zwar zu tun hat aber wenigstens den Rhythmus selbst bestimmen kann.
Wenn wir diese unflexiblen Muster der Berufswelt aufbrechen könnten, würde das viel Potential freisetzen - volkswirtschaftliches Potenzial und persönliches Glückspotenzial. Und wir können sie aufbrechen. Wie? Die Antwort lautet Nerdhalla-typisch natürlich wieder: mit Bildung! In der heutigen Situation scheitert Flexibilität in der Arbeitswelt oft daran, dass längst nicht Jeder jede Aufgabe übernehmen kann - und damit sind noch nicht einmal Aufgaben mit hochwissenschaftlichem Anspruch gemeint. Natürlich kann nicht jeder Straßenkehrer mal eben für eine Ingenieurin einspringen. Ein Straßenkehrer könnte vermutlich nicht einmal für eine Buchhalterin einspringen. Und die Buchhalterin könnte genau so wenig einfache Aufgaben in der IT-Administration übernehmen. Und genau hier kann Bildung ansetzen:
Wenn es uns gelingt, das Grundbildungsniveau soweit zu heben, dass auch der Straßenkehrer sich in einfache Aufgaben der Buchhaltung und die Buchhalterin sich in einfache IT-Administration einarbeiten kann, dann kann in der Arbeitswelt viel schneller und gründlicher auf menschliche und betriebliche Bedürfnisse reagiert werden. Es könnte sogar völlig normal werden, dass Leute mehrere Berufe ausüben - und dann könnten das Kombinationen aus Kopfarbeit und Handarbeit sein. So könnte jemand zum Beispiel Montag bis Mittwoch bei der Straßenreinigung arbeiten. Donnerstag und Freitag könnte er Verwaltungsaufgaben übernehmen, die auch per Laptop von zu Hause gehen. So wäre diese Person zwar drei Tage die Woche an Schichtpläne gebunden, an zwei Tagen aber flexibel. Handwerker zu Hause zu empfangen oder in einer verlängerten Mittagspause zur Hausärztin zu gehen wäre dann kein Problem. Oder auch zwischendurch einen Kuchen für die nächste Familienfeier zu backen und dafür einfach etwas Arbeitszeit an den Tag anzuhängen, wäre so auch für vergleichsweise "einfache" Berufstätige möglich.
Die Berufswelt könnte nach diesem Konzept deutlich anders als bisher aussehen. Antworten auf die Frage "Was machst du beruflich?" würden länger ausfallen. Das System von Steuern und Sozialabgaben müsste vermutlich angepasst werden, da es keine "Nebentätigkeiten" im heutigen Sinne mehr gäbe. Ruhezeiten müssten anders geregelt und gegebenenfalls geschützt werden. Die Veränderungen wären weitreichend - aber sie würden sich lohnen, da Viele deutlich motivierter arbeiten würden, mehr Freude am Leben hätten, gesünder wären und weniger schädliches Verhalten an den Tag legen würden. All das würde volkswirtschaftliche Kosten sparen.
Der Forderung nach mehr Bildung dürfte kaum jemand widersprechen.
Einwände gegen eine Gesellschaft, in der mehrere Jobs normal sind, sind aber von christlichen Sittenwächterinnen, liberalen Ökonomen und linken Betriebsräten gleichermaßen zu erwarten. "Ohne innere Einkehr und Feiertagsruhe verkommt der Mensch seelisch!", mahnt die Christin. "Die häufigen Tätigkeitswechsel sind ineffizient!", doziert der Wirtschaftswissenschaftler. "Der Arbeiter wird noch weiter in die engagierte Selbstausbeutung getrieben!", echauffiert sich die Betriebsratsvorsitzende. Das sind jedoch alles Einwände, die daher rühren, dass soziale Variablen mit Naturgesetzen verwechselt werden.
Die Christin nimmt an, dass nur die althergebrachte kalendarische Organisation von Gemeinsamkeitserfahrungen am Familientisch und in der Kirche soziale Harmonie erzeugen kann. Sie übersieht, dass diese soziale Harmonie früher auch nur unter den Bedingungen sehr gewaltbereiter Autorität zustande gekommen ist und dass heute zum Beispiel Onlinecommunities, in denen die Menschen asynchron aktiv sind, durchaus Gemeinschaftsgefühl erzeugen können.
Der typische Wirtschaftswissenschaftler denkt noch vom Zeitalter der Industrialisierung her und meint, Effizienz sei ausschließlich über Fließbandprozesse zu erreichen. Er übersieht dabei den Ereignishorizont seiner Theorie: In Fließbandprozessen war der Mensch von Anfang an ein Störfaktor, den es im Interesse der Effizienz durch größtmögliche Maschinisierung zurückzudrängen galt. Es ist nun aber absehbar, dass der Mensch mittelfristig in vielen Arbeitsprozessen komplett überflüssig werden wird. Mit Eintreten dieses Punktes bricht das ganze Konzept der durch Erwerbsarbeit strukturierten Gesellschaft zusammen. Der Ökonom übersieht, dass - im Gegensatz zu bald obsoleten Effizienztheorien - stärkere Kooperation über bisherige Grenzen hinweg Synergieeffekte erzeugen würde, die noch gar nicht im Ansatz volkswirtschaftlich mitgedacht sind.
Die Arbeitnehmervertreterin - sofern sie einigermaßen marxistisch sozialisiert ist - geht davon aus, dass zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern immer ein mehr oder weniger moderierter Kampf stattfinden müsse, weil die Interessen beider Seiten gegenläufig seien und blieben. Dass auch einfache Angestellte selbständig, selbstbewusst und eigenverantwortlich handelnde Individuen sind, die nicht zu ihrem eigenen Schutz bevormundet werden müssen, ist in ihrem Denken bestenfalls ein Einzelfall. Dabei gehören Freiheit und Verantwortung grundsätzlich zusammen und tun auch Berufstätigen unterhalb des Management-Levels gut.
Und sie alle - die klischeehaften Christen, Ökonomen und Sozialdemokraten, die hier gerade rhetorisch bemüht wurden - haben eines gemeinsam: Sie denken Arbeit reflexiv als etwas Unangenehmes; etwas, das einfach sein muss und im Normalfall keinen Spaß macht. Und in der Tat macht Arbeit keinen Spaß, wenn man keinerlei persönlichen Bezug zu ihr hat und wenn sie keine Bedeutung für das eigene Verhältnis zur Welt hat. Hier setzt aber wieder die Bildung an: Menschen mit guter Bildung bilden auch ein persönliches, nicht beliebiges Verhältnis zur Welt aus und sind deshalb in der Lage, nach einer Arbeit zu suchen, die sowohl volkswirtschaftlich auch für sie persönlich sinnvoll ist. Je flexibler die Arbeitswelt, desto besser sind die Chancen, so eine Arbeit auch zu finden. In dieser leistet man dank intrinsischer Motivation auch deutlich mehr, als wenn man nur "einen Job macht" (zum Unterschied zwischen "job" und "work": John Scherer: Quit Your Job and Find Your Work, https://www.youtube.com/watch?v=nXu7dDSflf8&t=609s)
Und Alle sind happy!