Statistik macht uns ein kleines bisschen unsterblich.
04.05.2025
Sterblichkeit ist eine grundlegende Tatsache des Lebens. Gleichzeitig ist sie für die Meisten unfassbar und unerwünscht, wenn es um die eigene Person oder nahestehende Menschen geht. Deshalb ist der Wunsch, sich in dieser Welt durch Surrogate unsterblich zu machen, sehr verbreitet.
Viele sehen ihre Kinder als solche Surrogate an. Wir leben gewissermaßen - genetisch und kulturell - in unseren Nachkommen weiter. Manche Leute versuchen auch, sich Denkmäler der einen oder anderen Art zu schaffen. Als einflussreicher Politiker geht man in Geschichtsbücher ein. Als erfolgreicher Unternehmer beeinflusst man die Leben vieler Mitmenschen. Als bekannte Künstlerin bleibt man der Nachwelt durch das eigene Oeuvre erhalten. Als besonders talentierte und hartnäckige Wissenschaftlerin erzielt man vielleicht einen Durchbruch, der später den eigenen Namen trägt.
Was ist aber mit Menschen, denen es nicht gelingt, berühmt zu werden, und die - freiwillig oder unfreiwillig - keine Kinder haben? Und was ist mit Menschen, die ihre Kinder nicht als Ersatz für Unsterblichkeit verstehen wollen; die ihre Kinder bewusst davon entlasten wollen? Gibt es für solche Menschen noch einen anderen Weg zu ein bisschen Unsterblichkeit?
Ja, es gibt ihn. Er heißt, wie mit der Überschrift schon verraten wurde: Statistik.
Wir Menschen in hochentwickelten Ländern wie Deutschland Leben heute in beispiellosem Komfort und beispielloser Sicherheit. Für die Allermeisten von uns sind nicht nur Trinkwasser, Nahrung und Wärme, sondern auch erfolgversprechende medizinische Behandlungen verfügbar, wenn wir sie brauchen. Das ist nur möglich dank eines seit Jahrtausenden laufenden wissenschaftlichen Prozesses, der immer wieder Beobachtungen und Vermutungen miteinander abgleicht. Dieser Prozess funktioniert umso besser, je mehr Daten er als Grundlage hat. Deswegen wurden und werden unermüdlich Daten gesammelt, indiziert, katalogisiert und aufbewart.
Am Beispiel der Medizin sei dieser historische Prozess ganz kurz skizziert: Schon Jahrtausende vor Christus sammelten Menschen im Umgang mit Krankheiten Erfahrungen und gaben diese weiter. Unter anderem im antiken Indien wurden so bereits beachtliche Erfolge wie zum Beispiel die Entfernung von Nierensteinen erzielt (vgl. Mayer 2009). Der Londoner John Gaunt begann im 17. Jahrhundert als Erster ein laufendes Register über Todesursachen. Damit legte er den Grundstein dafür, größere Ausbrüche ansteckender Krankheiten früh erkennen zu können (siehe El Shatby 2024). William Farr hat mit statistischen Methoden sowohl die Cholera, die London im 19. Jahrhundert plagte (vgl. Gale, Baron und Fry 2016), als auch Lungenkrankheiten von Bergarbeitern (vgl. Tapia Granados 2025) erfolgreich untersucht. Heute wird nicht mehr einfach nur gezählt. Es gibt ausgeklügelte statistische Verfahren für z.B. die Entwicklung neuer Medikamente und aufwendige Computersimulationen für die Ausbreitung von Krankheiten.
Dieser Prozess ist noch lange nicht am Ende. Wir haben Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson und Krebs noch nicht im Griff. Der Verlauf von schweren Krankheiten wird untersucht und dokumentiert. Jeder Tod wird irgendwie untersucht. Spätenstens wenn ein Mensch stirbt, hinterlässt er also weitere Daten für die Wissenschaft. Der Name wird in keinem auflagenstarken Geschichtsbuch erwähnt. Aber wertvolle wissenschaftliche Daten finden ihren Weg in die Datenbanken und Bibliotheken, in denen weiter geforscht wird. Wenn heute ein Patient erfolgreich geheilt wird, ist das dem zu verdanken, was aus vielen tödlichen Krankheitsverläufen der Vergangenheit gelernt wurde. Wenn heute ein Mensch A stirbt, wird eines Tages ein Mensch B weiterleben - dank dem, was aus dem Tod von A gelernt wurde. B wird es nicht wissen, aber er und viele anderen werden den von A hinterlassenen Informationen ihr Leben zu verdanken haben.
A ist so gesehen unsterblich, weil sein Leben und Sterben noch lange nach ihm von Bedeutung sind. Eines Tages werden wir alle A sein. Und nicht unwahrscheinlich ist, dass wir auch schon zu Lebzeiten einmal B sind.
Quellen: